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proteinmarkt.de - Infoportal für Fütterungsberater und Landwirte
Notwendige Berücksichtigung des Energiedefizites in der Frühlaktation sowie von weiteren Merkmalen in der (künftigen) Holsteinzucht
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Einleitung

Nach der Kalbung steigen Milchleistung und Futteraufnahme (FA) unterschiedlich schnell an. Während das Maximum der Milchleistung bei Holsteinkühen typischerweise bereits zwischen der 5. bis 8. Woche erreicht wird, variiert der Zeitpunkt des Erreichens der maximalen Futteraufnahme zwischen der 8. und 10. Woche nach der Abkalbung.

Neuere Studien zeigen, dass die negative Energiebilanz (NEB) bei hochleistenden Milchkühen heute praktisch das gesamte erste Laktationsdrittel umfasst.

In einem vorangegangenen Fachbeitrag (vgl. Beitrag auf proteinmarkt.de vom 07.08.2024) wurde gezeigt, dass die NEB im ersten Laktationsdrittel – aufgrund einer weiteren Milchleistungssteigerung ohne Beachtung der Energiebilanz bzw. damit im Zusammenhang stehender Kenngrößen – weiter zunimmt.

Nachfolgend werden die Vorzüge einer derartigen Selektionspraxis mit Beachtung der NEB (in der Frühlaktation) für die deutsche Holsteinpopulation aufgezeigt.

Genetisch-züchterische Zusammenhänge

Eine lang andauernde und umfassende NEB muss als ein bedeutender Risikofaktor für verschiedene Erkrankungen bzw. Fruchtbarkeitsstörungen angesehen werden (Abb. 1).

Abb. 1: Bei hochleistenden Kühen steigt die Milchleistung nach der Geburt schneller als die Energieaufnahme über das Futter. Es entsteht eine negative Energiebilanz. Gleichzeitig verliert die Kuh deutlich an Körpermasse (schematische Darstellung).

Der Energiestatus von Milchkühen ist ein Merkmal, das in aktuellen Zuchtprogrammen leider (noch) nicht berücksichtigt wird.

Eine NEB kann nur durch die Mobilisierung von Körperreserven seitens der Milchkuh ausgeglichen werden. Das systematische ‚Abfleischen‘ der Kühe in der Frühlaktation ist dafür ein gut bekanntes Zeichen (Abb. 1). Offensichtlich ist der Milchertrag in dieser Laktationsperiode teilweise von der Futteraufnahme (FA) ‚entkoppelt‘.

Die routinemäßige Erfassung von Körpermassen bzw. -veränderungen wird bereits in zahlreichen (größeren) Herden mittels automatischer Wiegestationen (vor oder nach dem Melken) sichergestellt. Diese Informationen könnten auch zur Bewertung von Bullennachzuchten genutzt werden, falls die Daten den Rechenstellen bereitgestellt werden. Allerdings weist Frau Prof. Mahlkow-Nerge (2024) darauf hin, dass die Bewertung der Körpermasseveränderung nur bedingt auf die Entwicklung des Körperfettabbaus schließen lässt, da die Körpermasseveränderung und die Körperkonditionsveränderung in der Frühlaktation, v.a. bei jüngeren Kühen (die noch wachsen), nicht vollständig identisch sind.

Darüber hinaus werden auch die Euterfestigkeit oder verschiedene Gliedmaßen-/Klauenprobleme von Kühen in höheren Laktationen züchterisch nicht erfasst (Abb. 2). Routinemäßig erfolgt die Erfassung von Exterieurmerkmalen aktuell nur in der Frühlaktation von Erstkalbskühen durch eine subjektive Bewertung durch geschulte Klassifizierer.

Die Euterform ist ein sehr komplexes Merkmal, das anhand verschiedener Aspekte wie Tiefe, Breite und Länge beschrieben werden kann. Die Eutertiefe weist außerdem eine negative und damit ungünstige Korrelation zur Milchmengenleistung auf. Im Laufe der Laktationen konnten Medeiros et al. (2024) eine kontinuierliche Abnahme der Eutertiefe bei hochleistenden Holsteinkühen belegen, was darauf hindeutet, dass sich das Euter mit zunehmender Parität dem Boden ‚nähert‘.

Außerdem erfährt die Milchdrüse nach jeder Laktationsperiode eine intensive Apoptose. Allerdings kehren weder das Drüsengewebe noch der Euterstützapparat in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Daher neigt die Milchdrüse mit jeder Laktation dazu, größer zu werden, und das Gewebe des Euterstützapparates neigt dazu, schlaffer zu werden (Abb. 2).

Abb. 2: Eine Altkuh mit einer Lebensleistung von über 100.000 kg Milch. Ihr hochproduktives aber leider auch tiefliegendes Euter erschwert zwischenzeitlich ihre Bewegung und das Melken.

Der tierhaltende Landwirt sieht seine Kühe mehrmals täglich und entscheidet sich – entsprechend dem Leistungs- und Gesundheitszustand jedes Einzeltieres – bezüglich des Verbleibs einer Altkuh in seiner Herde aufgrund seiner Erfahrung und Möglichkeiten; aber kaum aufgrund der früheren (subjektiven) Exterieurbewertung in der 1. Laktation.

Zukünftige Nutzung von Biomarkern

Die Energiebilanz (EB) erfasst die Differenz zwischen der Energie, die das Tier mit dem Futter aufnimmt, und der Energie, die für die Produktion und Erhaltung aufgewendet wird.

In den meisten (früheren) Studien musste zur Erfassung der EB die tägliche (Futter)-Trockenmasseaufnahme (TA) tierindividuell ermittelt werden (einschl. zugehöriger Energie- sowie Nährstoffkonzentrationen), um die Energieaufnahme abzuschätzen. Dies ist ein sehr aufwendiger und teurer Ansatz, der in praxi mit vielen Tieren über längere Zeiträume kaum umgesetzt werden kann.

Zahlreiche (neuere) Studien untersuchten deshalb alternative Ansätze, insbesondere Stoffwechselmetaboliten, zwecks Erfassung einer NEB bzw. zugehöriger subklinischer Krankheitsstadien (z.B. Ketose).

Eine Reihe von interessanten Biomarkern im Blut und/oder in der Milch konnten zwischenzeitlich gefunden werden (Abb. 3).

Abb. 3: Schematische Darstellung bestehender Zusammenhänge zwischen Energiebilanz und ausgewählten Biomarkern (modifiziertes eigenes Schema aus dem Projekt ‚HappyMoo‘, 2022).

Das Sammeln und Analysieren von Blutproben zur Messung von Biomarkern ist jedoch schwierig und teuer und in kommerziellen Milchviehherden nicht leicht anwendbar (Abb. 3). Demgegenüber sind Milchproben (von laktierenden Milchkühen) leicht verfügbar. Außerdem wird die Mittelinfrarot-Spektroskopie (MIR) bereits weltweit eingesetzt, um Milchleistungskennwerte zu erfassen, die routinemäßig in die genetische Bewertung von Zuchttieren bzw. bei der Preisbildung einbezogen werden (z. B. Fett-, Protein- und Laktoseanteile).

Die MIR ist eine nicht-invasive Technik, die auf große Tiergruppen anwendbar ist und sich zur Erfassung komplexer Phänotypen eignet, deren Gewinnung in großem Maßstab üblicherweise schwierig und teuer wäre.

Bereits vor mehr als 10 Jahren berichteten irische Wissenschaftler (z.B. McParland et al., 2012 und 2014) über die mögliche Nutzung von MIR zwecks Erfassung ausgewählter Milchmetaboliten, die mit einer NEB im Zusammenhang stehen.

Jüngste Studien zur Erfassung der tierindividuellen EB mittels MIR - vorrangig wiederum im Ausland (Belgien, USA, Dänemark, Frankreich) - lassen eine hinreichend hohe Genauigkeit dieser Daten (z.B. zur Beurteilung der EB von Bullennachzuchtgruppen) erkennen (Rovere et al., 2023).

Solche detaillierten Milchanalysen sollten zukünftig auch in Deutschland routinemäßig sichergestellt und jedem Milchviehhalter im Rahmen z.B. von Bullenangeboten mit aufgezeigt werden.

Modellierung des aktuellen Zuchtprogramms

Zur Überprüfung der Effekte der aktuellen Selektionsstrategie, vor allem auf Basis des RZG (genutzter Gesamtzuchtwert in der deutschen Holsteinzucht) bezüglich der Energiebilanz (EB) in der Frühlaktation, wurde die gültige populationsgenetisch begründete Selektionstheorie (= Indexselektion) genutzt (Brade, 2024).

Dazu wurden die aktuell berücksichtigten Kenngrößen (Komplexe) im offiziellen RZG um die folgenden Merkmale erweitert:

  • Energiebilanz in der frühen 2. Laktation,
  • Körpermasseveränderung in der frühen 2. Laktation,
  • Eutertiefe (subjektive Euternote in der 3. Laktation) und
  • Bewegungsnote (subjektive Note in der 3. Laktation).

Über die Ergebnisse wird nachfolgend berichtet, wobei zunächst der Einfluss der Merkmalszahl und zugehöriger Merkmalszusammenhänge auf den möglichen Zuchtfortschritt aufgezeigt werden soll.

Einfluss der Merkmalszahl und deren Gewichtung auf den Zuchtfortschritt

In der Abbildung 4 ist beispielhaft der zu erwartende Zuchtfortschritt (∆GTöchter) bei Auswahl der Vatertiere auf Basis einer differenzierten Gestaltung des zugehörigen Selektionsindexes (RZG) – bei Konstanthaltung übriger Einflussfaktoren (wie beispielsweise Selektionschärfe, Zuverlässigkeit der geschätzten Zuchtwerte etc.) – zusammengestellt.

Berücksichtigt wurden die (Teil)-Zuchtwerte für die Milchleistung (RZM), die Nutzungsdauer (RZN) und für die Fruchtbarkeit (RZR). Die zugehörigen Merkmalszusammenhänge basieren auf den bereits in einer vorangegangenen Arbeit aufgezeigten genetischen Beziehungen (vgl. Beitrag auf proteinmarkt.de vom 15.05.2024).

Diese Beziehungen sind zwischen der Milchleistung (einerseits) und der Nutzungsdauer bzw. Fruchtbarkeit (andererseits) eindeutig negativ, d.h. antagonistisch.

Abb. 4: Beispiel: Einfluss der Zahl berücksichtigter, antagonistisch verbundener Merkmale in einem Gesamtzuchtwert für Vatertiere und deren Gewichtung (eigene Berechnung)

Bei ausschließlicher Selektion der benötigten Vatertiere bezüglich ihrer Milchleistungsvererbung (RZM) kann der höchste Zuchtfortschritt für die Milchleistung (+ 857 kg EKM, energiekorrigierte Milch) in der Töchtergeneration generiert werden, der aber gleichzeitig auch zu einem negativen genetischen Trend bezüglich der Nutzungsdauer (- 21 Tage) führt (Abb. 3).

Erst die zusätzliche Einbeziehung der Nutzungsdauer (RZN) in den Gesamtzuchtwert (= Selektionsindex) verändert diesen Trend (∆GTöchter: ND), der umso wirksamer ist, je höher der RZN im Vergleich zum RZM im Selektionsindex gewichtet wird. Die Hinzunahme eines weiteren Merkmals (RZR) führt erwartungsgemäß zu weiterveränderten Trends (Abb. 4).

Gezielte Einflussnahme auf das Energiedefizit in der Frühlaktation

Wie bereits erwähnt, führt eine intensive Verbesserung der Milchleistung leider auch zu einer Zunahme der NEB in der Frühlaktation.

Das Ausmaß der Körperfettmobilisation hat folglich einen entscheidenden Einfluss auf die Stoffwechselbelastung und das Wohlbefinden der Milchkühe in der Frühlaktation.

Bereits Spurlock et al. (2012) haben sich dieser Fragestellung bei (älteren) Holstein-Kühen in den USA angenommen. Aus ihren Ergebnissen leitet sich eine (gewichtete) mittlere genetische Korrelation zwischen der 305-Tage-Milchleistung und der EB in den ersten 90 Tagen in Höhe von rg= -0,42 ab. Mit anderen Worten: mit zunehmender Milchleistung verschlechtert sich die EB in der Frühlaktation, d.h. die NEB nimmt zu.

Nutzt man diese Information – und weitere Informationen bezüglich des zugehörigen Körpermasseabbaus – im Rahmen der Erweiterung des aktuellen RZG, so lassen sich wiederum die nun zu erwartenden genetischen Trends in der Töchtergeneration ableiten.

Nach Prüfung zahlreicher Gewichtungsverhältnisse wurde ein erweiterter RZG ausgewählt, der neben den beiden Exterieurmerkmalen bei Altkühen (Euterfestigkeit und Bewegung) auch das Energiedefizit und den Körpermasseabbau in der 2. Laktation – diese beiden Merkmale nun konsequent negativ gewichtet – enthält (Abb. 5).

Abb. 5: Struktur der aktuellen und erweiterten RZG und zugehörige Gewichtungsanteile der verschiedenen Merkmalskomplexe (eigene Grafik)

Die zusätzliche Einbeziehung weiterer Merkmale in den gültigen RZG führt – wie zu erwarten war – zu einer Abnahme des möglichen Zuchtfortschrittes speziell für die Milchleistung (Tabelle 1).

Tabelle 1: Erwartete genetische Trends in der Töchtergeneration (∆GTöchter) in Abhängigkeit von der Gestaltung des Gesamtzuchtwertes (RZG) bei der Vatertierauswahl (bei Konstanthaltung übriger Faktoren wie Selektionsschärfe etc.)

Anzuerkennen bleibt auch, dass eine Verbesserung speziell der Klauengesundheit – aufgrund der Auslese von Vatertieren nach dem aktuellen RZG – leider nur sehr begrenzt ist. Die Begründung ist einfach: die Gewichtung der Klauengesundheit im aktuellen RZG ist vergleichsweise marginal.

Summa summarum zeigt sich: Die Nichtbeachtung eines zunehmenden Energiedefizits in der Frühlaktation mit zunehmender Milcheinsatzleistung, wie es aufgrund des aktuell genutzten RZG (in der deutschen Holsteinzucht) zu beobachten ist, führt zu einem immer stresslabileren Kuhtyp (Tabelle 1). Dies muss bei der Beurteilung aktueller züchterischer Aktivitäten nun auch anerkannt werden.

Als sehr fragwürdig muss an dieser Stelle deshalb auch der neue Zuchtwert ‚RZFutterEffizienz (= RZFE)‘, der vom vit Verden im April 2024 für Holsteinrinder vorgeschlagen worden ist, charakterisiert werden. Der neue Zuchtwert RZFE beschreibt, wieviel weniger oder mehr Futter (kg Trockensubstanz) eine Kuh für ihre produktive Leistung im Vergleich zu der Erwartung frisst. Fragwürdig ist ein solcher zusätzlicher Zuchtwert insbesondere deshalb, da keine Auswertungen/Konsequenzen bezüglich der variierenden Energiebilanzen (EB) im Laktationsverlauf vorgelegt wurden. Es wurde sogar ein negativer Zusammenhang zwischen RZFE und der Tiergesundheit aufgezeigt (VIT Verden, 2024).

Die Vermutung liegt nahe, dass solche Ansätze die NEB in der Frühlaktation weiter verstärken. Vor allem aus der Blickrichtung des Tierwohls bedarf es hier noch dringend weitere Aufklärung, bevor solche ‚Zuchtkomplexe‘ in die Praxis eingeführt werden.

Künftige Erfassung von Eutermerkmalen im Rahmen von Robotermelksystemen

Die Entwicklung und Morphogenese der Milchdrüse ist während des gesamten Lebens einer Kuh bemerkenswert dynamisch. Das Euter der Kuh ist durch Bänder aufgehängt, die an der Bauchdecke des Körpers und am Becken befestigt sind. Die seitlichen Bänder sind hauptsächlich dafür verantwortlich, die Tiefe des Euters aufrechtzuerhalten, und das mediale Band des Euters ist dafür verantwortlich, die Positionierung zentriert und senkrecht zum Boden der Zitzen aufrechtzuerhalten.

Automatische Melksysteme (AMS, auch als Melkroboter bekannt) sind zwischenzeitlich weltweit äußerst beliebt geworden.

Bei jedem Melkbesuch zeichnen AMS beispielsweise die Position der 4 Zitzen als kartesische Koordinaten in einem xyz-Plan auf, der dann zur Ableitung von Euterformmerkmalen verwendet werden kann (Medeiros et al., 2024).

Da AMS pro Melkbesuch eine große Menge an Daten für einzelne Kühe generieren, könnten sie zu einer genaueren Bewertung wichtiger Merkmale wie der Euterform zukünftig beitragen, ohne dass Klassifizierungsfehler (in subjektiven Bewertungssystemen durch den Menschen) hinzukommen. Daher darf erwartet werden, dass Empfehlungen zur Robotertauglichkeit von Zuchttieren (Vatertiere) zukünftig auch direkt auf AMS-Aufzeichnungen basieren. Außerdem beeinflusst die Euterform die Funktionsfähigkeit von AMS, da das Sensorsystem in der Lage sein muss, die Position jeder Zitze zu erkennen und den Melkbecher mit möglichst wenigen Fehlern anzubringen. Es könnten sogar völlig neue Eutermerkmale, wie beispielsweise die ‚Veränderung der Eutertiefe in Abhängigkeit von der Parität‘, zukünftig automatisch und unterstützt durch KI (= künstliche Intelligenz) bestimmt werden, die im Interesse des Tierwohls und des Milchkuhhalters von hohem Nutzen sein dürften.

FAZIT

Ohne zusätzliche Beachtung der Energiebilanz (EB) in der Frühlaktation sollten künftige Zuchtansätze nicht länger akzeptiert werden.

Vorteilhafterweise sollten auch einige wenige weitere Exterieurbewertungen (z.B. die Euterfestigkeit) bei Altkühen zusätzlich erfasst und routinemäßig bewertet werden. Erste Studien – leider bisher nur im Ausland – bestätigen, dass Euterformmerkmale, die aus kartesischen Koordinaten von Robotermelksystemen abgeleitet wurden, in hohem Maße vererbbar sind, was darauf hindeutet, dass hier weitere genetische Fortschritte und zuverlässigere Empfehlungen zur Robotertauglichkeit von Zuchttieren (Vatertieren) zukünftig möglich sind.

DER DIREKTE DRAHT

Prof. Dr. habil. Wilfried Brade,
TiHo Hannover (i.R.) sowie Norddeutsches Tierzucht-Beratungsbüro

Email: wilfried.brade@t-online.de

Foto: Archiv Prof. Brade