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Bewertung verschiedener aktueller Gesamtzuchtwerte in der deutschen Holsteinzucht
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Der aktuelle Holsteinzüchter interessiert sich zwangsläufig nicht nur für die Milchleistung, da das Leistungsniveau der modernen Holsteinkühe (im US-amerikanischen Typ) bekanntermaßen sehr hoch ist. Es stellt sich deshalb zunehmend die Frage nach der optimalen Kombination verschiedener Merkmale, da die höchste Wirtschaftlichkeit erst durch eine vorteilhafte Kombination verschiedener Merkmalskomplexe (Milchleistung, Nutzungsdauer, Gesundheit, Fruchtbarkeit etc.) sichergestellt werden kann.

Es werden somit in modernen Zuchtprogrammen nicht nur tierindividuelle Zuchtwerte einzelner Merkmale ermittelt. Es sind ganze Gruppen von Merkmalen von Interesse. Diese vielfältigen Merkmalsgruppen werden anschließend über die Definition eines Gesamtzuchtwertes genetisch-wirtschaftlich kombiniert.

Der nachfolgende Beitrag hat das Ziel, die aktuell genutzten Gesamtzuchtwerte in der deutschen Holsteinzucht zu bewerten.

Breitgefächerte Zuchtwertschätzung

In den international führenden Holsteinzuchten in Nordamerika und Westeuropa werden zwischenzeitlich Zuchtwerte für eine große Zahl wirtschaftlich wichtiger Merkmalskomplexe regelmäßig geschätzt:

  • Milchleistung (RZM; Milchmenge, Fettmenge, Eiweißmenge, Fett-%, Eiweiß-%)
  • Nutzungsdauer (RZN)
  • Exterieur (RZE; in Deutschland: ≥20 lineare Merkmale, 4 Merkmalskomplexe)
  • Gesundheitsmerkmale (RZGesund; mit Einbeziehung zugehöriger Abgangsursachen wie im Nutzungsdauerzuchtwert)
  • Fruchtbarkeit (RZR)
  • Kalbeeigenschaften (RZK; maternaler und direkter Kalbeverlauf)
  • Kälbervitalität und -gesundheit

Aufgrund der Vielzahl gleichzeitig zu berücksichtigender Merkmale werden viele dieser Einzelzuchtwerte oft in merkmalspezifischen Teilzuchtwerten, z.B.

  • RZM [= Relativzuchtwert Milch],
  • RZN [= Relativzuchtwert Nutzungsdauer],
  • RZE [= Relativzuchtwert Exterieur],
  • RZK [= Relativzuchtwert Kalbeverhalten],
  • RZGesund [= Relativzuchtwert Gesundheit],
  • RZR [= Relativzuchtwert Fruchtbarkeit/Reproduktion] etc.)

kombiniert und schließlich in einem Gesamtzuchtwert (z.B. dem RZG) weiter zusammengefasst.

Ein derartiger Gesamtzuchtwert (RZG, relativer Gesamtzuchtwert) kommt in Deutschland seit 1997 zur Anwendung. In der Vergangenheit wurde der RZG mehrfach modifiziert.

Zwischenzeitlich sind weitere Gesamtzuchtwerte in praxi etabliert worden:

  • der RZ€ (sprich RZ-Euro), der seit August 2020 berechnet wird
  • der RZÖko (= Ökologischer Gesamtzuchtwert)

Vergleicht man die Gewichtung der verschiedenen Merkmalskomplexe in den drei Gesamtzuchtwerten (RZG, RZ€, RZÖko), so fällt die hohe Übereinstimmung der Gewichtungsanteile für die Milchleistung sowie Nutzungsdauer/Gesundheit auf (Abb. 1).

Abb. 1: Relative Gewichtungsanteile (in %) der verschiedenen Merkmalskomplexe im Rahmen der Bildung der differenzierten Gesamtzuchtwerte (RZG, RZ€, RZÖko) in der deutschen Holsteinzucht

Im Vergleich zu RZG und RZ€ wird die Milchleistung im RZÖko etwas weniger stark gewichtet (Abb. 1). Außerdem wird die Milchmenge hier leicht negativ bewertet.

Mit anderen Worten:  extreme Milchmengenvererber ohne gute Inhaltsstoffvererbung werden im RZÖko etwas benachteiligt, ähnlich wie es in Skandinavien seit Jahren erfolgreich im dortigen Gesamtzuchtwert (NTM) praktiziert wird (Brade, 2024).

Analysiertes Datenmaterial

Zur Überprüfung genetischer Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Merkmalen bzw. Gesamtzuchtwerten wurden die Zuchtwertschätzergebnisse für Deutsche Holstein-Besamungsbullen der Bullenjahrgänge 2015 und 2016 genutzt. Als Bedingung wurde weiter festgelegt, dass diese Vatertiere auch zusätzlich Töchterleistungen aufwiesen (Stand: Zuchtwertschätztermin: August 2023). Außerdem wurde zur Verifikation der Ergebnisse eine zusätzliche (unabhängige) Korrelationsanalyse der Bullenjahrgänge 2017 und 2018 anhand der Dezember 2023-Zuchtwerte durchgeführt.

Generell beschreibt ein Korrelationskoeffizient (allgemein mit r gekennzeichnet) den Zusammenhang zwischen zwei Merkmalspaaren mit einer Zahl zwischen -1 und +1. Je näher der Wert bei ‚Null‘ liegt, umso geringer ist die Beziehung. Je mehr sich der r-Wert der Zahl ‚Eins‘ annähert, umso enger ist die (positive) Beziehung. Werte mit negativem Vorzeichen bedeuten, dass sich mit Zunahme des 1. Merkmals die zugehörigen Werte im 2. Merkmal verschlechtern.

Ergebnisse

Zunächst wurden die genetischen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Merkmalskomplexen anhand des aktuellen Praxismaterials geprüft (Tab. 1).

Tab. 1: Berechnete genetische Beziehungen (rg) zwischen verschiedenen Merkmalskomplexen*

Die berechneten Beziehungen zwischen den Milch (RZM)- und Nutzungsdauer (RZN)-Zuchtwerten sind klar negativ (Tab. 1). Dieser Antagonismus ist in besonderer Weise auch für den Merkmalskomplex Milchleistung (RZM) und Fruchtbarkeit (RZR) anzuerkennen.

Zudem sollte der enge Zusammenhang zwischen Nutzungsdauer (RZN) und dem Gesundheitskomplex (RZGesund) nicht überraschen, da hier ähnliche Datenmengen genutzt werden.

Bestätigt wird der negative Zusammenhang zwischen dem Konditionszuchtwert (RZBCS), basierend auf einer subjektiven Erfassung der Kondition von Jungkühen in der Frühlaktation (sogenannte BCS-Noten) und der Höhe der Milchleistung (RZM) (Tab. 1).

Bewertet man schließlich die genetischen Zusammenhänge der in der Holsteinzucht genutzten drei Gesamtzuchtwerte (RZG, RZ€, RZÖko), so bleibt festzuhalten, dass der RZG und der RZ€ praktisch identische Effekte auf die Rangierung/Auswahl von Bullen erwarten lassen. Mit anderen Worten: der aktuelle RZ€ ist zwischenzeitlich als überflüssig zu bewerten, da er keine zusätzlichen Informationen gegenüber dem aktuellen RZG (mit neuer Gewichtung vom April 2021) liefert (Abb. 2).

Abb. 2: Genetische Zusammenhänge zwischen den genutzten verschiedenen Gesamtzuchtwerten in der deutschen Holsteinzucht (eigene Berechnungen)

Anmerkung: oberer Wert (in rot) Ergebnisse für die Jahrgänge 2015 und 2016: darunter (in Klammer, schwarz) die Ergebnisse für die Bullenjahrgänge 2017 und 2018

Leider führt auch der neue RZÖko letztlich zu sehr ähnlichen Rangierungen im Vatertierbestand wie der aktuell gültige RZG (Abb. 2).

Da bei der Ableitung der Merkmalsgewichtung im RZÖko leider ohnehin die nachweislich vorhandenen Genotyp-Umwelt-Interaktionen (GUI), speziell für die Gesundheitsmerkmale nicht berücksichtigt wurden, bleibt die tatsächliche Wirksamkeit des RZÖko in der Biomilcherzeugung weiter kritisch zu hinterfragen.

Auch stellt sich die Frage, ob überhaupt in der deutschen Holstein-Population, die im US-amerikanischen Holstein-Typ steht, eine intensive Nutzung von Dauergrünland (Weide) als bestimmende Futtergrundlage genetisch-züchterisch angestrebt wird. Strenggenommen werden hier seit Jahrzehnten die ‚Kraftfuttertypen‘ (= sehr edle, großrahmige Milchkühe mit einem ausgeprägten Milchcharakter und sehr scharfem Widerrist) unter Stallhaltungsbedingungen und intensiver Kraftfutterfütterung bevorzugt.

Differenzierte Zuchtziele?

Auf die hier interessierende Frage: „Brauchen wir differenzierte Zuchtzielsetzungen für verschiedene Produktionssysteme?“, lautet die Antwort allerdings klar: „Ja“!

Ein zunehmendes Interesse an einer leichteren Holstein-Kuh mit hohen Milchinhaltsstoffen und hoher Fruchtbarkeit, speziell für die Weidehaltung, ist längst auch in Deutschland gegeben.

Da aber sowohl der Körpermasse (KM) als auch der Fruchtbarkeit im neuen RZÖko keinerlei Beachtung eingeräumt wird, sollte der RZÖko aus der Sicht des Autors vor allem als ein ‚Marketinginstrument‘ charakterisiert werden. Man möchte offensichtlich auch einen Absatzmarkt für Sperma von deutschen Holsteinbullen (im US-amerikanischen Typ) im Bereich der Biomilcherzeugung sicherstellen.

Abb. 3: Der Zuchtfortschritt in den Milchkuhbeständen wird vor allem über die richtige Auswahl der genutzten Vatertiere realisiert (Foto: W. Brade)

Bestätigt werden die aufgezeigten Zusammenhänge durch die jüngsten Versuchsergebnisse mit verschiedenen Milchkuhgenotypen an der Bundeslehr- und Forschungsanstalt für Landwirtschaft Raumberg-Gumpenstein (Österreich). Hier wurde u.a. das klassische Holsteinrind (im US-amerikanischen Typ) den leichteren neuseeländischen Schwarzbuntrindern unter Vollweidebedingungen (mit restriktiver Kraftfutterzulage) gegenübergestellt (Tab. 3).

Tab. 2: Versuchsergebnisse für Holsteinrinder und neuseeländische Schwarzbunte unter Vollweidebedingungen bzw. im Stall und höherer Kraftfutterzulage*

Während unter Stallhaltungsbedingungen mit intensiver Kraftfutterzulage das Holsteinrind dem Neuseeländischen Schwarzbuntrind überlegen ist, bleibt unter Vollweidebedingungen das Holsteinrind deutlich unterlegen (Tab. 3).

FAZIT

  1. Die Zusammenhänge zwischen Milchleistung (RZM), Nutzungsdauer (RZN) und Fruchtbarkeit (RZR) sind eindeutig negativ.
  2. Die in den zurückliegenden Jahren neu etablierten Gesamtzuchtwerte (RZ€, RZÖko) weisen sehr enge genetische Beziehungen zum RZG auf. Der RZG sowie der RZ€ führen in praxi zu sehr ähnlichen Rangierungen im KB-Bullenbestand.
  3. Da für differenzierte Milchproduktionssysteme (Stallhaltung mit intensivem Kraftfuttereinsatz, saisonale Weidehaltung mit begrenztem Kraftfuttereinsatz) differenzierte Zuchtzielsetzungen angezeigt sind, bleibt die Eignung des neuen RZÖko für die Auswahl der geeignetsten Tiere für die ökologische Milcherzeugung weiter zu hinterfragen. So werden im aktuellen RZÖko notwendige Zuchtwerte zur Sicherstellung nur mittlerer Körpermassen der Milchkühe einschließlich einer hohen Fruchtbarkeit leider nicht beachtet.
  4. Aus Sicht des Autors sollten zukünftig die drei Gesamtzuchtwerte (RZG, RZ€ und RZÖko) in einem neuen Gesamtzuchtwert mit künftig konsequenter zusätzlicher Beachtung der Ressourceneffizienz (z.B. Futterenergieanteil aus dem Raufutteranteil in der Ration) vielmehr zusammengefasst werden und ein neuer Gesamtzuchtwert speziell für die Milcherzeugung unter Weidebedingungen etabliert werden.

DER DIREKTE DRAHT

Prof. Dr. habil. Wilfried Brade (i.R.),
TiHo Hannover sowie
Norddeutsches Tierzucht-Beratungsbüro

Email: wilfried.brade@t-online.de

(Genutzte Literatur beim Verfasser erhältlich)