Kuhgebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung – wie funktioniert das?
Was spricht dafür, was dagegen und wo besteht weiterer Forschungsbedarf?
Bei der kuhgebundenen Kälberaufzucht werden Kälber auf Milchviehbetrieben an ihren Müttern oder Ammen aufgezogen. Dadurch können die Tiere ihr natürliches Säuge- und Sozialverhalten ausleben und verbleiben meist länger auf ihren Geburtsbetrieben. Dies kommt den Vorstellungen und Wünschen vieler Verbraucher:innen aber auch einiger Landwirt:innen näher als die aktuell gängige Praxis der frühzeitigen Trennung und Einzelaufstallung der Kälber. Für ökologisch wirtschaftende Milchviehbetriebe stellt das eine mögliche Strategie dar, die Kälber länger in der Bio-Wertschöpfungskette zu halten. Aktuell ist die kuhgebundene Kälberaufzucht noch wenig verbreitet. In Forschung und Praxis findet das Verfahren seit rund 15 Jahren verstärktes Interesse, vor allem auch in den nordischen Ländern.
An der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf wurde gemeinsam mit Partnern ebenfalls an der kuhgebundenen Kälberaufzucht geforscht. Im Zeitraum zwischen November 2021 und Mai 2022 wurden auf 19 ausgewählten bayerischen Öko-Milchviehbetrieben verschiedene Verfahren der kuhgebundenen Kälberaufzucht erfasst. Die Betriebe praktizierten seit mindestens zwei Jahren kuhgebundene Kälberaufzucht und nahmen an der Milchleistungsprüfung des LKV Bayern teil. Anhand eines standardisierten, schriftlichen Fragebogens wurden die teils sehr unterschiedlichen Verfahren der kuhgebundenen Kälberaufzucht erfasst und vor Ort dokumentiert.
Breite Palette an unterschiedlichen Systemen der kuhgebundenen Kälberaufzucht
Die Umsetzung der kuhgebundenen Kälberaufzucht gestaltet sich sehr betriebsindividuell und vielfältig. Im Wesentlichen sind drei gängige Verfahren zu unterscheiden: (1) ausschließliches Saugen der Kälber am Euter der eigenen Mutter, (2) das Saugen an Ammenkühen oder (3) Mischform aus Mutter- und Ammenaufzucht. Neben dem Kontakttier unterscheiden sich die Verfahren auch im Hinblick auf die Kontaktdauer und den Kontaktort. Auf sechs von den untersuchten Betrieben waren Kühe und Kälber dauerhaft zusammen (zumeist feste Ammen-Kälber-Gruppen). Drei Betriebe organisierten einen Halbtageskontakt mit nur einer Melkung pro Tag und einer anschließenden zwölfstündigen Kuh-Kalb-Kontaktzeit.
Sechs Betriebe praktizierten ein System mit Kurzzeitkontakt rund um die Melkzeiten. Ob die Kühe, die Kälber versorgen, zusätzlich gemolken werden, gestaltet sich ebenfalls sehr individuell. Es war zu erkennen, dass Betriebe mit festen Ammen-Kälbergruppen die Kühe in den meisten Fällen nicht zusätzlich melken (siehe Tab. 1). Wenn Ammenkühe eingesetzt wurden, wurden sie nach Kriterien wie mütterliche Eigenschaften, erhöhte Zellzahl oder schlechte Melkeigenschaften ausgewählt. Manche Landwirt:innen ergänzten, dass sie gerne ältere Kühe als Ammen verwenden, um ihnen einen friedlichen und verdienten Ruhestand zu ermöglichen.
Einblicke in verschiedenen Systemen der kuhgebundenen Kälberaufzucht können in den Abbildungen 1-5 erlangt werden.
Abbildung 4: Kälber im Herdenverbund mit Kühen auf der Weide. Die Kälber lernen von den adulten Tieren das Leben in der Herde, das Grasen, den Zaun, das Treiben etc. (Foto: Joanna Kantwerk)
Tierwohl, Kälbergesundheit und Arbeitswirtschaft als Motivation
Eine häufige Motivation von Betrieben auf kuhgebundene Kälberaufzucht umzustellen, ist die Steigerung des Tierwohls gefolgt von Aspekten der Kälbergesundheit. Landwirt:innen berichten, dass es ihnen ein Anliegen ist, ihren Tieren das Ausleben ihres natürlichen Säuge- und Sozialverhaltens zu ermöglichen. Betriebe, die vorher teilweise große Probleme mit pathogenem Kälberdurchfall hatten, nahmen dies zum Anlass für eine Umstellung. Im Rahmen unserer Untersuchungen wurden auf Betrieben mit kuhgebundener Kälberaufzucht überwiegend vitale und frohwüchsige Kälber beobachtet. Teilweise wurden bei diesen Kälbern trockene Kotverschmutzungen festgestellt, die einem pathogenen Kälberdurchfall nicht gleichzusetzen sind, meistens ohne tierärztliche Behandlung abgeklungen sind und wahrscheinlich durch einen punktuell sehr hohen Milchkonsum verursacht wurden.
Abbildung 5: Kuh mit ihrem Kalb auf der Weide. Neben Nahrungsaufnahmen werden auch soziale und alltägliche Kompetenzen erlernt (Herde, Grasen, Zaun, Triebwege) (Foto: Theresa Hautzinger)

Trennungsprozess, Stall- und Platzbedarf sowie Einbußen bei verkaufsfähiger Milch als Hemmnisse
Die mittlere Dauer, die für die Umstellung von einer herkömmlichen auf eine kuhgebundene Aufzucht benötigt wurde, betrug bei den untersuchten Betrieben 3,5 Jahre. Die Einführung eines kuhgebundenen Kälberaufzuchtsystems ist eine erhebliche Umstellung – mental ebenso wie im Arbeitsablauf. Ein befragter Landwirt formulierte, man müsse sich „gedanklich komplett umsortieren“. Das Absetzen der Kälber stellte die Betriebe laut eigener Einschätzung vor die größte Herausforderung, gefolgt von ungeeigneten baulichen Gegebenheiten und dem Platzbedarf sowie der Tierbeobachtung und Gesundheitskontrolle. Beim Absetzen und Trennen wurde meist stufenweise und sorgsam vorgegangen, um den Prozess für Kälber und Kühe so schonend wie möglich zu gestalten.
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht stellte die Reduktion der verkaufsfähigen Milch und die damit verbundenen ökonomischen Einbußen einen maßgeblichen Nachteil der kuhgebundenen Kälberaufzucht dar, der durch die Vermarktung der Fresser oder des Kalbfleisches bisher kaum ausgeglichen werden konnte. Auch die Milch wurde nur in seltenen Fällen mit dem ausgelobten Zusatznutzen „Aus kuhgebundener Kälberaufzucht“ vermarktet und generierte aktuell kaum Mehrerlöse. Eine Zertifizierung dieses Zusatznutzens ist für die Bio-Milchviehbetriebe der Anbauverbände seit 2023 aufgrund von Bemühungen der Interessengemeinschaft kuhgebundene Kälberaufzucht möglich (www.ig-kalbundkuh.de).
FAZIT
Die kuhgebundene Kälberaufzucht ist aktuell noch wenig verbreitet. Durch die sehr unterschiedlichen betrieblichen Gegebenheiten und die Tatsache, dass die Ställe in den allermeisten Fällen nicht hinsichtlich kuhgebundener Kälberaufzucht geplant wurden und bisher keine allgemein gängigen Beratungsgrundlagen vorliegen, differenzieren die Verfahren von Betrieb zu Betrieb sehr stark. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für eine gelungene Umsetzung der kuhgebundenen Kälberaufzucht ist die intrinsische Motivation und Überzeugung der Landwirt:innen. Es besteht weiterer Forschungsbedarf u.a. in Bereichen der Kälbergesundheit, der Arbeitswirtschaft und der Milchleistungsprüfung bei kuhgebundener Kälberaufzucht. Einige Aspekte davon werden im Verbundprojekt KuKIndiTM (https://www.mls.ls.tum.de/anm/arbeitsgruppe-tierernaehrung-und-metabolismus/forschung/kukinditm/) unter Leitung von Frau Prof. Dr. Julia Steinhoff-Wagner (TU München) weiter untersucht.
Hinweis: Die Untersuchungen zur kuhgebundenen Kälberaufzucht wurden im Rahmen des Projektes mehrWERT Öko-Milch+Fleisch (https://www.hswt.de/forschung/projekt/1603-mehrwert-oeko-milch-fleisch) durchgeführt. Das Projekt wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Tourismus gefördert.