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Kälberhaltung heute und in Zukunft: Viel unerschlossenes Potential und noch mehr Herausforderungen!
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Nach wie vor werden 60 – 70 % der Kälber in Einzelhaltung gehalten und nur mit 4 – 6 l Tränke pro Tag, angeboten im Eimer, versorgt. In der Natur aber säugt die Mutter das Kalb 5 bis 10 mal pro Tag. Ein Säugeprozess dauert 5 – 10 min und das Kalb nimmt so mind. 10 l Milch pro Tag auf.

Dieser direkte Vergleich offenbart eine große Diskrepanz. Die immer noch ausgeprägte restriktive Tränke von Kälbern in der Praxis hinkt den aktuellen Ergebnissen aus der Wissenschaft deutlich hinterher.

Wie werden die Kälber zukünftig gehalten? Wie können wir die Jungtieraufzucht weiter optimieren? Gibt es in anderen Ländern ähnliche Entwicklungen wie in Deutschland und auf was sollte man sich als Milchviehhalter einstellen?

Experten aus drei Ländern diskutierten auf dem 39. Rindergesundheitstag des Innovationsteams Milch Hessen mögliche Zukunftsszenarien in der Kälberhaltung und Möglichkeiten, die Potentiale weiter zu erschließen.

Kälber benötigen mehr Milch

Für Prof. Nina von Keyserlingk aus Kanada von der UBC steht außer Frage, dass die Praxis die Erkenntnisse der Wissenschaft schneller aufgreifen muss, zum einen, um den Kälbern gerecht zu werden, aber auch, um dem zunehmenden Misstrauen der Gesellschaft entgegenzutreten.

Kälber, die einen freien Zugang zu einem mit Milch gefüllten Nuckeleimer haben, trinken durchschnittlich 47 min pro Tag, nehmen dabei mehr als 10 Liter auf und verteilen das auf 6 bis 10 Mahlzeiten pro Tag. Das ist der ganz einfache Beweis dafür, dass man auch dann, wenn Kuh und Kalb nach der Geburt getrennt werden, die Kälber artgerecht und nahe am Vorbild der Natur aufziehen kann.

Genau dieses aber praktizieren weltweit nach wie vor zahlreiche Betriebe nicht. Sie versorgen die Kälber mit zu wenig Milch, häufig mit längst überholten Argumenten, dass das Kalb stattdessen früh Kraftfutter und Grundfutter fressen muss, damit es sich zu einem Wiederkäuer entwickelt. Fakt ist aber, dass Kälber, die nur mit 4 bis 6 Liter pro Tag versorgt werden, hungrig sind und ein hungriges Tier kann sich nicht „normal“ entwickeln.

Die klare Empfehlung der weltweit renommierten Expertin ist einfach: Kälber müssen mit ca. 10 l/Tag versorgt werden und wenn bereits mit 8 Wochen abgesetzt werden soll, muss das Absetzen in kleinen Schritten über einen Zeitraum von mind. 1 Woche „gestreckt“ werden.

Kälber, die in den ersten Wochen mehr Milch aufnehmen, haben auch eine höhere Kraftfutteraufnahme und zeigen eine bessere Körperentwicklung. In den ersten 3 Wochen sollten Kälber immer unbegrenzt Milch zur Verfügung haben, angeboten über einen Nuckel, wobei 8 Liter die Untergrenze darstellen.

Es gibt nach wie vor Aussagen aus der Praxis, dass eine frühe Heugabe für kleine Kälber eher schädlich ist. Auch dieses Vorurteil kann mit zahlreichen Studien widerlegt werden. Kälber brauchen Faser/Struktur, damit der Übergang vom Monogastrier zum Wiederkäuer störungsfrei funktioniert. Kälber, die ab der 1. Woche Kraftfutter und Heu angeboten bekommen, nehmen dann ab der 4. Woche mehr Futter auf, was wiederum zu einer besseren Pansenentwicklung mit stabileren pH-Verhältnissen führt.

Neue Ansätze in der Kälberhaltung

Paarweises Aufstallen

Neben den Ansätzen in der Fütterung der Kälber gibt es auch zahlreiche neue, erfolgreiche Ansätze in der Kälberhaltung. Die früher propagierte Einzelhaltung der Kälber ist nicht das Beste für das Kalb, auch wenn so die Hygiene in der Aufzucht vermeintlich besser gewährleistet werden kann. Die paarweise Aufzucht ab Tag 1 oder spätestens ab Tag 6 bis 7 hilft den Kälbern über viele Stressmomente im Leben hinweg: Das Absetzen von der Milch gelingt leichter, die frühe Futteraufnahme klappt mit „bestem Freund“ an der Seite besser und neue Situationen werden von paarweise aufgezogenen Kälbern besser gemeistert. Ein Phänomen, dass sich bis zum Eintritt in die laktierende Herde hält, denn Erfahrungen aus der Praxis berichten vom stressfreieren Eingewöhnen der Färsen an die Melktechnik, nachdem sie paarweise aufgezogen wurden. Da der Artgenosse in der Kälberbox die Futteraufnahme anregt, entwickeln sich paarweise aufgezogene Kälber besser, sowohl in der Tränkephase, als auch danach.

Entscheidend ist allerdings, dass auch paarweise aufgezogene Kälber nach wie vor ihren individuellen Platzanspruch haben. Ein herkömmliches Einzel-Iglu, welches eigentlich nur für ein Kalb vorgesehen ist, ist für 2 zu klein. Pro Kalb sollten mind. 3 m² Platz zur Verfügung stehen, auch wenn die Kälber meist gemeinsam in einer Hütte/Iglu liegen, wenn sie liegen. Aber da der ungenutzte Raum zwischen den Einzelboxen reduziert wird, können auf gleicher Grundfläche ggf. sogar mehr Kälber gehalten werden (Abbildung 1).

Abbildung 1: Anzahl an gehaltenen Kälbern bei Einzelaufstallung im Vergleich zur paarweisen Aufstallung bei gleicher Grundfläche (Knauer, 2022)

Die paarweise Aufzucht bringt viele Vorteile, auch in der Verhaltensentwicklung der Kälber. Wenn die Kälber früh in einer Kleingruppe gehalten werden, zeigen sie ein ähnliches kognitives Verhalten wie die Kälber, die bei der Mutter verbleiben. Und wie eine aktuelle Arbeit zeigt, sind Kälber auch gewillt, schwer zu arbeiten, um einen direkten Kontakt mit einem Nachbarkalb aufzunehmen (Ede et al., 2022).

Tipps zur paarweisen Aufzucht: um gegenseitiges Besaugen zu vermeiden, sollten mind. 10 l Tränke pro Kalb über einen schwergängigen Nuckel angeboten werden (jedes Kalb ein Nuckeleimer, eine Kraftfutterschale und einen Eimer mit Wasser!).

Ab ca. 5. Lebenstag sollte Heu/Grundfutter angeboten werden, Wasser und Kraftfutter bereits ab dem 3. Lebenstag. Die Paare können sofort ab Geburt gebildet werden oder innerhalb von 1 Woche (abhängig von der Betriebsgröße).

Nur gesunde Kälber in (Klein)Gruppen aufstallen!

Wichtig: Es kommt auf den direkten Kontakt der Kälber untereinander an, nur die Nase durch ein Gatter strecken zu können, reicht nicht!

Trennung Kuh und Kalb

Ein Thema, das sehr stark im Fokus der Öffentlichkeit steht, ist die frühe Trennung von Kuh und Kalb. Viele Gründe, die von Seiten der Praxis für dieses Vorgehen angeführt werden, sind wissenschaftlich nicht haltbar. Die öffentliche Wahrnehmung differenziert nicht, sie geht eindeutig in die Ablehnung dieser Managementpraxis der Trennung von Kuh und Kalb.

Wenn dieses Thema nicht proaktiv von der Praxis aufgegriffen wird, erhöht sich das Risiko, dass zukünftige Managemententscheidungen zur Kälberaufzucht ohne den Landwirt getroffen werden, so Nina von Keyserlingk. Die Wissenschaftlerin rät zu einer klaren Argumentationskette für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit, die derzeit scheinbar keinerlei Varianten bei der Kuh-Kalb-Trennung akzeptiert.

Noch vor 20 Jahren war die Einzelhaltung der Kälber nach der frühen Trennung von der Mutter Standard, genauso wie die täglich verabreichte Milchmenge von 4 Litern pro Kalb. Heute hat die Wissenschaft bewiesen, dass es vorteilhafter ist, die Kälber in Paaren oder Kleingruppen aufzuziehen und sie mit mehr Milch zu versorgen, weil das besser für das Kalb und seine ungestörte Entwicklung ist.

Wenn die Wissenschaft in 20 Jahren beweisen kann, dass eine Form der muttergebundenen Aufzucht in allen Betriebstypen realisierbar ist und dieses Möglichkeiten zur Verbesserung für alle bietet, wird dies letztlich auch umgesetzt werden. Derzeit fehlt für dieses Vorgehen neben der Vorstellung von Seiten der Landwirte aber auch noch die wissenschaftliche Empfehlung für die Umsetzung.

Der erste Schritt als Kompromiss, auch um zu beweisen, dass die Praxis bereit ist, sich zu verändern, ist die paarweise Aufzucht der Kälber.

Was ist „der beste“ Weg?

Einen interessanten Einblick in die Praxis der Kälberaufzucht und in die Entwicklungen der letzten Jahre in den USA zeigte Prof. Robert James, Virginia Tech auf. Für den emeritierten Hochschulwissenschaftler und aktiven „Calf Blogger“ der USA gibt es keinen besten Weg an sich, denn es gilt immer, drei unterschiedliche Perspektiven zu beachten: aus der Sicht des Kalbes, aus der Sicht des Produzenten und aus der Sicht des Verbrauchers, die alle naturgemäß andere Schwerpunkte legen.

Die Perspektive des Kalbes ist sehr klar: es kann eine win-win-win-Situation werden, wenn Haltungsumwelt und Kolostrummanagement optimal gestaltet werden, weil dann das beste Fundament für die weitere gesunde Entwicklung gelegt wird. Die frühe saubere Kolostrumgabe ist durch nichts zu ersetzen und hier ist es Pflicht der Produzenten, das optimale Management zu gewährleisten und entsprechend zu kontrollieren. Nur dann ist ein guter IgG-Transfer gewährleistet. Wenn es gelingt, das Kolostrum der Mutter zu nutzen, können zahlreiche weitere Vorteile für eine gute Immunantwort genutzt werden.

Prof. James ist hier auch ein deutlicher Verfechter, dass die sog. „Transitmilch“ genutzt wird, denn man weiß heute, dass auch gerade diese Übergangsmilch vom Kolostrum hin zur Milch wertvolle Botenstoffe für das Kalb und die physiologische Entwicklung bietet. Wer nicht aufgrund von besonderen Gesundheitsgefahren im Betrieb (ParaTB oder BVD) darauf angewiesen ist, pasteurisiertes Kolostrum zu vertränken, sollte es bei der natürlichen Variante belassen, die aber entsprechend hygienisch einwandfrei gewonnen und vertränkt werden sollte.

Auch für die weitere Tränkephase rät der Experte das Vertränken von Vollmilch in ausreichenden Mengen (> 8 Liter), weil die Tiere sich besser entwickeln, vor allem auch mehr viszerales Fett einlagern und somit mehr körperliche Reserven bilden können, die das Immunsystem längerfristig stärken. Bis zu einem Alter von 4 Wochen fressen die Kälber kaum Kraftfutter, aber sie verlieren mehr Wärme als ältere Tiere, weil die Oberfläche verhältnismäßig größer ist, so dass sie unbedingt auf eine gute Nährstoffversorgung angewiesen sind, um den erhöhten Erhaltungsaufwand abdecken zu können. Kommen dann noch extra Stressoren hinzu, wie Kälte oder Hitzestress, steigert sich dieser Bedarf entsprechend.

Auch in den USA hat sich die Kälberaufzucht in den letzten Jahren verändert, vor allem große Betriebe setzen neue Empfehlungen schneller und erfolgreich um und die „traditionelle Art“ mit wenig Milch und abruptem Absetzen von der Milch ist rückläufig. Die Qualität der eingesetzten Futtermittel wird hinterfragt und bei der Ökonomie sind nicht die absoluten Kosten entscheidend, sondern die Kosten pro Gramm tägliche Zunahme sowie die Ausfallraten wegen Krankheiten oder Verlusten. Das Ziel ist die Verdoppelung des Geburtsgewichtes bis zum Absetzen und eine maximal 25 %ige Morbiditätsrate.

Damit ist die Perspektive der Produzenten bereits charakterisiert: Das Unternehmen muss profitabel sein und der Produzent muss sich ständig hinterfragen und seine Vorstellungen für die Zukunft des Betriebes und des Managements in 10 bis 20 Jahren definieren. Und genau hier spielt die Sicht der Konsumenten eine wichtige Rolle. Am Ende muss sich jeder selbst die Frage beantworten, ob das „traditionelle Modell“ der USA mit wenig Kosten und wenig Arbeit der richtige Weg in die Zukunft ist. Aus Sicht des Kalbes ist er das nicht, hier wäre der bessere Ansatz: wenig Kosten pro kg Zuwachs, wenig Krankheit und Verlustraten, um die langfristige Produktivität zu verbessern. Einfach gesagt: Mehr Protein und mehr Fett in der Kälberfütterung rechnen sich am Ende immer – für das Kalb und für den Produzenten!

Damit die Kälberaufzucht gelingt, braucht es ein gutes Kälbermanagement mit validen Daten. Neben Gesundheitsdaten, die am verlässlichsten über automatisierte Tränketechniken gezogen werden, ist die Qualität des Kolostrums zu bestimmen und die Gewichtsentwicklung zu dokumentieren. Das gelingt am besten im Team mit dem Fütterer, dem Herdenmanager, dem Berater, dem Tierarzt und anderen Beratern von Seiten der Industrie. Kommunikation ist auch hier der Schlüssel zum Erfolg.

DER DIREKTE DRAHT

Sibylle Möcklinghoff-Wicke und
Dr. Peter Zieger,
Innovationsteam Milch Hessen, März 2022

Fotos: Freepik