Zur Navigation springen Zum Inhalt springen
proteinmarkt.de - Infoportal für Fütterungsberater und Landwirte
Ist die paarweise Kälberhaltung eine Möglichkeit?
-

Derzeit gibt es viele Aspekte, die für Veränderungen und notwendige Anpassungen in der Kälberaufzucht in der Praxis sprechen, denn die Haltung und das Management der Kälber stehen zunehmend im Fokus der Öffentlichkeit. Kälbertransportalter, die frühe Trennung von Kuh und Kalb sowie die „End the cage age“-Diskussion („Käfigzeitalter“) sind offensichtliche Anzeichen dafür, dass ein neuer Standard in der Kälberaufzucht vonnöten ist.

Ein weiteres wichtiges Argument, die eigene Kälberaufzucht zu überprüfen und auf ein nächstes Level zu bringen, sind die nach wie vor zu hohen Verluste in der Aufzucht und der Antibiotikaeinsatz in der Kälberaufzucht. Im Fokus der Betriebe muss die Verbesserung der Gesundheit der Tiere stehen, denn Verluste in der Tränkephase von über 5 % bedeuten verlorenes Potential und wirken negativ auf die Wirtschaftlichkeit und auf die Nachhaltigkeit des Betriebes.

Für die Öffentlichkeit ist vor allem die frühe Trennung von Kuh und Kalb ein Kritikpunkt. Die Vorstellung von Kuh und Kalb gemeinsam auf der Weide oder im Stall als ideale Form der Kälberhaltung, mit Vorteilen für Kuh und Kalb, hat sich fest in der öffentlichen Wahrnehmung verankert.

Es gibt verschiedenste Verbraucherbefragungen zu diesem Thema und die Ergebnisse einer deutsch-amerikanischen Studie (Busch et al., 2017) zeigen z.B. bei den meisten Verbrauchern eine deutliche Ablehnung der frühen Trennung von Kuh und Kalb. Wenngleich 44 Prozent der Befragten es schwierig fanden, Argumente für oder gegen die Trennungspraktik zu bewerten, bevorzugten sie aber eher eine spätere Trennung. 39 Prozent befürworteten deutlich eine spätere Trennung. Der verbleibende geringere Prozentsatz der Befragten sprach sich für die heute übliche frühe Trennung aus. Diese Ergebnisse änderten sich auch nicht maßgeblich, wenn den Befragten sachlich/fachliche Argumente der praktizieren frühen Trennung erläutert wurden.

Weil die muttergebundene Aufzucht als standardisiertes Verfahren in der Aufzucht noch viel Forschungsarbeit erfordert, da die Wissenschaft noch nicht klar definieren kann, welches der vielen Verfahren, die in Praxis zu finden sind, tatsächlich das Beste für Kuh und Kalb ist, kann die paarweise Kälberaufzucht ein Weg für die Praxis sein, die Aufzucht sozialer für die Kälber zu gestalten.

Fokus Haltung: Ist die Paarhaltung für Kälber sinnvoll?

Unter Umständen ist die Paarhaltung von Kälbern nicht für jeden Betrieb geeignet, aber die Vorteile für die Kälber, die daraus resultieren, sind vielversprechend.

Die Wissenschaft will verstehen, wie bestimmte Haltungs- und Managementroutinen das Verhalten und das Tierwohl positiv beeinflussen können, vor allem in folgenden Bereichen:

a) Was brauchen Kuh und Kalb für ein bestmögliches Tierwohl?

b) Was erwarten Interessenvertreter in der gesamten Kette und was die Öffentlichkeit?

c) Wie können die Produzenten diese Erwartungen erfüllen?

Trotz aller Vorteile, die die Einzelhaltung der Kälber bietet, sind bei dieser Haltung Abstriche im Tierwohl unvermeidbar. Daher sehen (amerikanische) Experten einen starken Trend zur paarweisen Kälberaufzucht, dass dieses Haltungssystem die neue Norm wird und somit das bisherige Standardverfahren der Einzelhaltung ablösen wird.

Der Trendwechsel von der Einzelhaltung hin zur Paarhaltung ist ein Spiegelbild dessen, dass Wissenschaft ein Prozess ist, der Zeit und Erfahrung erfordert. Es gibt viele Wege der erfolgreichen Kälberaufzucht und Hygiene und Gruppenstrategien lassen sich durchaus miteinander vereinbaren.

Gesellschaft ist wichtig für Kühe und Kälber

Jeder braucht einen guten Freund, der ihm hilft, schwere Zeiten zu überstehen, das ist auch bei Kälbern der Fall. Kälber sind „kleine Kühe“, das heißt, ihr natürliches Verhalten ist das eines Herdentieres. Werden sie allein gehalten/isoliert, haben sie keinen Bezug zur Herde, sie sind einsam und das hat weitreichende Konsequenzen. Kälber, die im Paar gehalten werden, erkennen den Stallgenossen als vollwertigen Herdenersatz an und das kann das Wohlergehen der Tiere, das Wachstum der Kälber und die Wahrnehmung der Verbraucher verbessern. Gesellschaft ist für das soziale Wesen Rind, einem Herdentier, sehr wichtig. Kälber, die mit einem „besten Freund“ aufgezogen werden, zeigen eine größere Anpassungsfähigkeit an Veränderungen. Sie sind eher bereit, neue Futtermittel wie Beifutter, Heu und TMR auszuprobieren. Dies führt zu einer besseren Stressresistenz und weniger Lautäußerungen beim Absetzen.

Die Vorteile der sozialen Haltung (Paar oder Kleingruppe) sind vor allem:

  • der soziale Kontakt in Kombination mit mehr Platz pro Kalb, denn das stimuliert das natürliche Spielverhalten der kleinen Kälber, was gleichzeitig als Indikator für Tierwohl gewertet wird
  • Förderung der sozialen Entwicklung der Kälber
  • Stärkung ihrer späteren sozialen Stellung als ausgewachsene Kühe in der Milchkuhherde: die Tiere sind dominanter und gleichzeitig weniger aggressiv und ängstlich, denn sie haben angemessene arttypische Verhaltensweisen erlernt
  • verbesserte kognitive Anpassungsfähigkeit (Verhaltensflexibilität) an neue Dinge und Resilienz gegenüber Stress; dieses hilft den Tieren schneller, mit neuen Bedingungen (neues Futter, neue Technik, neue Haltungselemente…) zurechtzukommen

Andererseits sind neugeborene Kälber eine Risikogruppe für Krankheiten und es ist wichtig, sie vor Ansteckung durch kranke oder ältere Tiere zu schützen und entsprechende Hygienemaßnahmen, einschließlich Reinigung und Desinfektion der Gruppenboxen/Iglus/Hütten und der Ausrüstung zu etablieren. Generell gelten für den Erfolg in der Kälberaufzucht die gleichen Grundlagen, egal ob Einzel- oder Gruppenhaltung:

  • Hygiene und Biosicherheit,
  • All-in/All-out-Bewegungen,
  • Kolostrum-Protokoll,
  • Ernährung,
  • Platzangebot,
  • Einstreu,
  • Belüftung

Darum hat sich die Wissenschaft in den letzten Jahren intensiv mit den Möglichkeiten und Herausforderungen der paarweisen Aufzucht beschäftigt und es können klare Empfehlungen für das beste Handling der Kälber als Paar oder Kleingruppe gegeben werden, so dass die paarweise Aufzucht für die Kälber ein Gewinn wird, weil sich die Entwicklung und die Gesundheit positiv verbessern können. Auch in der Praxis gibt es immer mehr Betriebe, die mit der paarweisen Aufzucht erste Erfahrungen sammeln oder die versuchen wollen, diese Form der sozialen Haltung im Betrieb zu etablieren, so dass auch hier ein steigendes Interesse an diesem Aufzuchtsystem festzustellen ist.

Die Aufzucht von Kälbern in jeder Art von Haltung ist mit einigen Herausforderungen verbunden. Die Einzelhaltung kann z.B. die Übertragung von Krankheiten von Kalb zu Kalb zwar einschränken, aber nicht verhindern, zumal Kälberkrankheiten in der Regel durch eine Kombination von Faktoren verursacht werden, und nicht nur durch die Art der Haltung ausgelöst werden. Wie Wissenschaft und Praxis gleichermaßen zeigen, ist die Aufzucht gesunder Kälber in Paar- oder Gruppenhaltung bei gutem Management möglich. 

Vor der Umstellung auf die paarweise Aufzucht von Kälbern ist es wichtig, das eigene Management auf Stärken und Schwächen zu prüfen. Neben den Benchmarks in der Kälbergesundheit spielen auch andere Managementpraktiken eine Rolle, die gemeinsam mit dem Hoftierarzt und Berater besprochen werden sollten. Die paarweise Aufzucht von Kälbern mag nicht für jeden Betrieb geeignet sein, aber die Vorteile sind vielversprechend.

Ein Leitfaden für die paarweise Aufzucht von Tränkekälbern

Eine aktuelle Zusammenfassung der Beratungsempfehlungen zur paarweisen Aufzucht hat eine Gruppe um Jennifer van Os, Wissenschaftlerin an der Universität Wisconsin, Madison zusammengestellt. Das Innovationsteam Milch hat diesen Praxisleitfaden gemeinsam mit Kollegen des Hofguts Neumühle, Rheinland-Pfalz, übersetzt und an die deutschen Bedingungen, Vorgaben und Beratungsempfehlungen angepasst, so dass mit dem Leitfaden ein umfangreiches Handbuch für den Einstieg in die paarweise Aufzucht in Betrieben vorliegt.

Der Leitfaden umfasst insgesamt 7 Kapitel, die im Zusammenhang mit der paarweisen Aufzucht von Tränkekälbern bedeutsam sind. In diesem Leitfaden mit dem Titel "Zwei Köpfe sind besser als einer: Ein Leitfaden für die Paarhaltung von Milchkälbern" werden bewährte Verfahren zur Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Kälbern in Paar- oder Gruppenhaltung vorgestellt.

Die Titel und Themen der siebenteiligen Artikelserie als Einstiegsleitfaden für die Paar- oder Gruppenhaltung von Tränkekälbern lauten wie folgt:

1. „Warum die ganze Aufregung um die Paarhaltung?“
Im einleitenden Artikel werden die Forschungsergebnisse zu den Vorteilen für die Entwicklung der Kälber, die Starterfutteraufnahme und das Wachstum sowie die Verbraucherakzeptanz erläutert. Auch die unterschiedlichen Auswirkungen der Gruppenhaltung auf die Kälbergesundheit werden aufgezeigt und in den nachfolgenden Artikeln werden bewährte Verfahren zur Förderung gesunder Kälber vorgestellt.

2. „Benchmarks für die Kälbergesundheit vor der Paarhaltung“
Wir geben Benchmarks für die Übertragung der passiven Immunität, Morbidität und Mortalität. Die Messung dieser Ergebnisse kann dabei helfen, festzustellen, ob für einen Betrieb der richtige Zeitpunkt für den Übergang zur Paar- oder Gruppenhaltung von Kälbern gekommen ist.

3. „Hygienepraktiken“
Das Kapitel fokussiert auf die besten Praktiken zur Verringerung der Ausbreitung von Krankheiten, einschließlich Hygiene und Einstreu.

4. „Optionen für die Paar- oder Gruppenhaltung“
Die paarweise Haltung kann in verschiedensten Weisen umgesetzt werden. In diesem Kapitel werden unterschiedliche Haltungsvarianten für die paarweise Aufzucht vorgestellt und Empfehlungen für das Platzangebot der Kälber gegeben.

5. „Gruppenbildungsstrategien“
Das Kapitel gibt Antworten auf die Fragen der optimalen Gruppengrößen, der möglichen Altersspanne im Paar bzw. in der Gruppe und wie das Handling der Tiere nach dem Absetzen erfolgen kann.

6. „Fütterungspraktiken und Verringerung des Kreuzsaugens“
Hier werden Forschungsergebnisse zur Milch- oder Milchaustauschergabe, zu Fütterungsmethoden und Entwöhnungsstrategien zur Verringerung unerwünschter Verhaltensweisen wie dem gegenseitigen Besaugen, dem Saugen an Stalleinrichtungen und die Konkurrenz um Milch besprochen. Da die amerikanische Fütterungsempfehlung nicht 1:1 mit deutschen Empfehlungen übereinstimmt, sind hier vor allem auch die üblichen Beratungsempfehlungen aus Deutschland aufgeführt.

7. „Überlegungen zum Enthornen“
Auch dieses Kapitel wurde an die deutschen Vorgaben und rechtlichen Grundlagen angepasst, da die Grundlagen in den USA anders sind und diese Empfehlungen hier nicht übernommen werden können.

Die Artikelserie behandelt bewährte Praktiken, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und geht auf häufige Fragen aus der Praxis zum Thema ein. An jeder Stelle sind Fachwissen auf dem Gebiet der Kälbergesundheit und des Wohlbefindens von Kälbern sowie praktische Erfahrungen aus der Praxis, der Beratung und den praktizierenden Tierärzten eingeflossen.

Der Praxisleitfaden:

„Zwei Köpfe sind besser als einer: Leitfaden für die paarweise Aufzucht von Tränkekälbern“ steht zum freien download zur Verfügung unter: www.milchhessen.de/kaelber-paarweise-aufzucht

Der Leitfaden im Original „Two Heads Are Better Than One - A Starter Guide to Pairing Dairy Calves“ wurde erstellt von Jennifer van Os PhD, Department of Animal&Dairy Science, UW Madison, mit Beiträgen der folgenden Experten der Kälberhaltung-Aufzucht: Sarah Adcock, Ph.D., University of Wisconsin-Madison Department of Animal and Dairy Sciences; Joao Costa, Ph.D., University of Kentucky Department of Animal and Food Sciences; and Emily Miller-Cushon, Ph.D., University of Florida Department of Animal Sciences.

Weitere Beiträge kamen von Experten für Kälbergesundheit und Rinderveterinärmedizin: Theresa Ollivett, D.V.M., Ph.D., und Courtney Halbach, MBA, UW-Madison School of Veterinary Medicine Department of Medical Sciences; und Sandy Stuttgen, D.V.M., Ausbilderin für Landwirtschaft in Taylor County, Wisconsin. Tina Kohlman, Beraterin für Milchwirtschaft und Viehzucht in Fond du Lac County, Wisconsin, steuerte ihr Fachwissen über das Management von Milchkälbern und Färsen bei.

Das amerikanische Original wurde übersetzt und an deutsche Vorgaben und Empfehlungen angepasst von Dr. Christian Koch und Dr. Jason Hayer, Lehr und Versuchsanstalt für Viehhaltung Hofgut Neumühle, Münchweiler (Kapitel 3 und 6), Dr. Peter Zieger (Kap. 2 und 7) und Sibylle Möcklinghoff-Wicke (Kap. 1, 4, 5), Innovationsteam Milch Hessen; Layout: Petra Will, Presse und Öffentlichkeitsarbeit, LV Milch Hessen

DER DIREKTE DRAHT

Sibylle Möcklinghoff-Wicke
Innovationsteam Milch Hessen der
Landesvereinigung Milch Hessen
Lochmuehlenweg 3

61381 Friedrichsdorf

Foto (Katrin Mahlkow-Nerge)