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Milchviehhaltung in 50 Jahren - Technologien machen die Tierhaltung besser
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Den Blick in die Glaskugel würden wir alle gern machen, um vorauszusagen, wie die Zukunft im Bereich der Milchviehhaltung in Deutschland aussehen wird. Hat die landwirtschaftliche Nutztierhaltung eine Zukunft oder wie wird/wie muss sie sich weiterentwickeln? Welche Entwicklungen sind wahrscheinlich und was wird in 50 Jahren selbstverständlich sein? Mit diesen Fragen befasst sich Sibylle Möcklinghoff-Wicke vom Innovationsteam Milch Hessen im aktuellen Beitrag und gibt einen Ausblick über mögliche Veränderungen.

Global wird die Weltbevölkerung von derzeit rund 7,5 Milliarden Menschen auf etwa 8,5 Milliarden im Jahr 2025 und ca. 10 Milliarden im Jahr 2050 anwachsen. Da zugleich immer mehr landwirtschaftlich genutzte Flächen aufgrund von Urbanisierung, Klimawandel und dessen Folgen verloren gehen, werden Nahrungsmittel knapper werden. Vermutlich wird es sehr drastische Veränderungen durch Flächenknappheit und Wetterkapriolen geben und der Zwang zur Effizienzverbesserung ist vordringlich. Einen Blick in die Zukunft wagt Sibylle Möcklinghoff-Wicke, Innovationsteam Milch Hessen.

Strukturelle Entwicklung und Einzeltierleistungen

Aufgrund der bisherigen Entwicklung ist weiterhin mit einem stetigen Wachstum der Betriebe zu rechnen, auch wenn das nicht mehr unbedingt an einem Standort allein stattfinden wird. Steigende Auflagen im Landschafts- und Umweltschutz, aber auch der gesellschaftliche Druck wird dazu führen, dass vermehrt Satellitenstandorte entwickelt werden, da viele Standorte an der genehmigungsfähigen Grenze liegen – der Trend zum Zweitbetrieb ist bereits jetzt in einigen Regionen ablesbar. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass die Anzahl der Betriebe weiter zurückgehen wird.

Wie schnell die strukturelle Entwicklung voranschreitet, ist sicher von vielen Faktoren abhängig. In den Regionen wird es nach wie vor unterschiedliche Betriebe geben, da die optimale betriebswirtschaftliche Größe neben der technologischen Entwicklung auch maßgeblich von den Akteuren beeinflusst wird. Präferenzen und Fähigkeiten der Betriebsleiter werden auch zukünftig die einzelbetriebliche Entwicklung prägen. Und die Vielfalt der Menschen wird zu vielfältigen Betrieben und Betriebsgrößen führen. Also eigentlich nichts Neues in 50 Jahren?

Ein Blick auf die strukturelle Entwicklung der Milchproduktion in Deutschland zeigt, dass im Zeitraum von 2000 bis 2010 eine moderate Entwicklung stattgefunden hat, aber ab 2010 eine Phase der beschleunigten Entwicklung zu beobachten war.

Geht man davon aus, dass der beschleunigte Strukturwandel auch nach 2020 anhält und schreibt diese Zahlen in die Zukunft fort, würde das bedeuten, dass wir 2030 noch ca. 35.000 Betriebe und 2050 weniger als 10.000 Betriebe für die Milchproduktion hätten. Wahrscheinlicher ist, dass die erforderliche Milchmenge über die Anzahl der Milchkühe gesteuert wird. Wenn die Einzeltierleistung mit knapp 2% fortgeführt wird, läge die Leistung pro Kuh 2050 bei ca. 12.400 kg. Schon heute gibt es Kühe mit dieser Leistung…

Die deutsche Landwirtschaft befindet sich in einem permanenten Entwicklungsprozess, der vor allem auf die kontinuierlichen Änderungen der Rahmenbedingungen zurückzuführen ist. Insofern ist das Fortschreiben von Entwicklungstendenzen eher schwierig, denn auch zukünftig spielen die Globalisierung, der voranschreitende technische Fortschritt, aber auch die Liberalisierung des Welthandels sowie das globale Bevölkerungswachstum eine entscheidende Rolle.

Genetik war gestern

Zukünftig werden die Nachhaltigkeit und die Effizienzverbesserung verstärkt Hand in Hand gehen müssen, wenn die wachsende Bevölkerung mit immer weniger Ressourcen versorgt werden soll.

Die Technologie der Milchviehhaltung wird 2068 auf einem anderen Niveau sein, als heute. Sie wird geleitet durch zahlreiche Informationen aus allen Bereichen des gesamten Betriebes. Der Milchproduzent der Zukunft wird Systemanalysen generieren, die sicherstellen, dass das Ökosystem im Gleichgewicht und die Produktion nachhaltig sind. Die Epigenetik wird die klassische Genetik ablösen und so die Gesundheit und die Produktivität der Tiere und Pflanzen verbessern.

Der Begriff ist zusammengesetzt aus den Wörtern Genetik und Epigenese, also der Entwicklung eines Lebewesens. Epigenetik gilt als das Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen: Sie bestimmt mit, unter welchen Umständen welches Gen angeschaltet wird und wann es wieder stumm wird.  Heute verlassen wir uns auf Heritabilitäten von Leistung, Milchfett, Langlebigkeit und Eutergesundheit.

2068 wird der Schwerpunkt auf der Veränderung der Expression von Genen liegen, indem die Umwelt eines Tieres oder der Herde verändert oder kontrolliert wird. Dies ist bekannt als epigenetisches Management oder ‚Umweltmanipulation der Genexpression‘. Epigenetische Expression beinhaltet, dass Gene ‚eingeschaltet‘ oder ‚ausgeschaltet‘ werden können, um Änderungen in der Biologie des Tieres zu erreichen.

Aktuell lernen die Wissenschaftler noch, wie die Vorteile der Epigenetik zukünftig noch besser genutzt werden können, aber die Möglichkeiten für die Zukunft sind groß. Bereits heute gibt es erste Erfahrungen mit der Epigenetik. Wenn z.B. Kälber mit mehr Milchfeststoffen (mehr Milchmenge) in der Tränkephase versorgt werden, wirkt sich das positiv auf die spätere Milchleistung aus. Dies ist ein Umwelteinfluss, dessen positiver Effekt erst zwei Jahre später auftritt, nachdem das Kalb mit mehr Nährstoffen versorgt wurde.

Bisher weiß man noch nicht genau, welche Mechanismen diesem Prozess zugrunde liegen, aber es hat damit zu tun, wie sich Gene in der sich entwickelnden Milchdrüse verändern oder dem tierischen Stoffwechselsystem, lange bevor die Laktation beginnt. Je größer das Wissen um die Epigenetik wird, desto mehr epigenetische Praktiken werden in der täglichen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden, um die Milchleistung und Inhaltsstoffe, die Tiergesundheit, die Fruchtbarkeit und andere Bereiche zu verbessern. So können z.B. trächtige Kühe in definierten Zeiträumen der Trächtigkeit mit spezifischen Nährstoffen oder biologisch aktiven Komponenten versorgt werden, um damit langfristig die Gesundheit des Fetus zu stärken.

Nutzung von vorteilhaften Mikrobiomen

Eine vielversprechende Entwicklung in den nächsten 50 Jah­ren wird die Nutzung und Manipulation von Populationen von natürlichen Organismen sein, die vorteilhaft für die gesamte Lebensmittelproduktion sein wird. Milcherzeuger kennen die Grundzüge von Mikrobiomen über die Pansenmikroben, aber auch Populationen von Organismen im Verdauungstrakt, den Geschlechtsorganen, dem Euter oder der Haut werden wichtige Funktionen in der Gesundheit und dem Wohlergehen der Kühe übernehmen. Man weiß bereits heute, dass sich die Profile von Mikroorganismen in einem gesunden und einem kranken Euterviertel unterscheiden, dass sich ein gesunder Uterus von einem mit Metritis unterscheidet.

Derzeit werden Mastitis und Metritis mit Antibiotika behandelt, die sowohl die schädlichen, als auch die vorteilhaften Mikroorganismen vernichten. Kann man zukünftig ein krankes Euterviertel heilen, indem man gezielt vorteilhafte Organismen ansiedelt? Aus der Pflanzenzüchtung weiß man, dass es möglich ist, Saatgut mit positiv wirkenden Organismen zu umhüllen, um so den Ertrag um 5 % zu steigern, ohne weiteren zusätzlichen Input. Zukünftig ist es darum denkbar, dass wir auch im Stall, in der Umgebung der Kuh solche Organismen nutzen. Hefen, Kulturen, andere Pro- und Präbiotika sowie Silierhilfsmittel, die bereits jetzt erfolgreich eingesetzt werden, sind vermutlich erst die Spitze des Eisberges dessen, was möglich sein wird.

Die Herde als Superorganismus?

Eine Herde von Kühen ist als eine Produktionseinheit für Milch zu verstehen, ähnlich wie ein Bienenvolk, das Honig produziert. Der Superorganismus des Bienenvolkes besteht aus Individuen, die aber dennoch als Ganzes auf die Umwelt reagieren und Entscheidungen treffen. Die Mitglieder der Kolonie (des Bienenvolkes, des Ameisenhaufens,…) haben viel Dinge gemeinsam: sie fressen das Gleiche, sie sind in der gleichen Umwelt und leiden meist an den gleichen Krankheiten.

Ähnlich ist es auch bei Kühen, aber dennoch weiß man heute noch wenig darüber, wieso Herden so unterschiedlich in der Gesundheit, Produktivität und Nachhaltigkeit reagieren. Liegt es daran, dass die Wissenschaft den Blick auf das „Große und Ganze“ verloren hat, weil uns heute eine solche Flut an Daten zur Verfügung steht?

Zu Beginn einer Forschung mag noch die Kuh stehen, aber dann sind es die einzelnen Organe der Kuh (Euter, Leber, Eierstöcke, Pansen) oder die Klauen, die im wissenschaftlichen Fokus stehen. Das führt dazu, dass die Herde nicht mehr als Ganzes gesehen wird und darum sind wir derzeit noch nicht in der Lage zu klären, warum manche Herden gesünder, produktiver und auch nachhaltiger sind, als andere. Heute liegen große Unterschiede auch schon in der Aufzucht, denn Realität ist, dass ¼ der Kälber dauerhaft krank sind und bleibende Lungenschäden haben. In Zukunft werden wir darum wesentlich einheitlicher und kontrollierter Tiere aufziehen, füttern und halten müssen.

Wenn wir diese Unterschiede zwischen Herden verstehen wollen, müssen wir, symbolisch gesprochen, wieder einen Schritt zurückgehen und systematisch und standardisiert Daten von der Herde als Superorganismus sammeln?

Eine Kuh für jede Gelegenheit?

In den letzten 20 Jahren lagen die Schwerpunkte der Milcherzeugung auf Tiergesundheit und Kuhkomfort, Lebensmittelqualität, Produktvielfalt und Verbraucherwünschen. In den kommenden 30 Jahren diktiert der steigende Bedarf nach Nahrungsmitteln weltweit das Geschehen: die Betriebe werden größer, die Profitspanne bleibt knapp, da Futter, Energie und Arbeit eher teurer werden.

Der Automatisationsgrad steigt auch zukünftig noch an und die Kühe werden von wenigen, mehr technisch ausgebildeten Mitarbeitern versorgt/betreut. Es erscheint wahrscheinlich, dass zukünftig nur noch die Betriebe Lebensmittel für den Markt produzieren dürfen, die eine zertifizierte Produktionsstätte vorweisen können. Melken, Füttern, Liegeflächenpflege und andere Kontrollaufgaben werden vollautomatisch gesteuert, aber auch im Futterbau wird die Teilautomatisation weiter zunehmen.

Die Milchleistung der Einzelkuh wird weiter steigen, heute ist noch unklar, wie weit die Milchleistung ohne negative Einflüsse auf die Tiergesundheit steigen kann. Auch zukünftig bleiben die Schlüsselgrößen für die wirtschaftliche Milcherzeugung die Produktion, die Gesundheit und die Fruchtbarkeit der Kühe.

Durch den Austausch von Genen aus einer Rasse in eine andere Rasse (Genom-Editierung) wird es Kühe mit einer effizienten Futterverwertung geben und insgesamt weniger genetische Variationen, weil es verschiedene Versionen der „idealen Kuh“ gibt. In der westlichen Welt mit hohem know how und guten Produktionsstandards gibt es die intensive Kuh mit hoher Nährstoffaufnahme und hoher Milchleistung. In Regionen mit schwierigeren Umweltbedingungen gibt es die extensive Kuh mit bewusst geringerer Futteraufnahme und bewusst geringerer Milchleistung für die Weideproduktion. Und für die Entwicklungsländer gibt es eine adaptierte „3. Welt Kuh“ mit 300 kg Gewicht und einfachem Handling.

Zusätzlich werden Gentests und in vitro-Fertilisation dazu führen, dass nur noch mit wenigen Kuhfamilien noch effizienter und zielgerichteter auf Gesundheit und Leistungsmerkmale gezüchtet wird. 

Auch in 50 Jahren noch Boxenlaufställe?

Größere Bestände verlangen effizientere Arbeitsverfahren, d.h. eine Verringerung des Arbeitszeitbedarfs, vor allem in den Bereichen Melken, Füttern, Entmisten und Tierüberwachung. Der Einsatz der Technologie ist nötig, um Arbeitszeit zu sparen und um die Produktionskosten zu senken, aber auch, um das Management zu verbessern.

Der Boxenlaufstall, wie wir ihn heute kennen, war in den letzten 40 Jahren ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Milchviehhaltung, ebenso wie die Flüssigmistverfahren und Rohrmelkanlagen das Bild entscheidend geprägt haben. Die zukünftigen „Meilensteine“ sind die Automatisation, die Nutzung von Sensortechnik und vermutlich auch ein „update“ für die Laufstallhaltung. Es gibt bereits erste Ansätze für neue Stallsysteme, die den Tierwohlaspekt und die Verbraucherwünsche deutlich stärker umsetzen, als das im Boxenlaufstall der Fall ist. Freilaufställe mit intelligentem Liegeflächenmanagement oder auch mit synthetischen Bodenbelägen reduzieren die Arbeitszeit und steigern den Kuhkomfort.

So wie es bereits heute Rundställe gibt, ist es denkbar, dass mehrere Liegehallen zentral um ein Melkhaus angeordnet werden und auch die Fütterung zentral aus der Mitte oder auch über externe Futterzentralen (Bsp. Israel) gesteuert wird.

Der Milchviehbetrieb der Zukunft wird vermutlich energieautark und emissionsarm sein, durch die Produktion von Energie aus Biogas und Photovoltaik. Wasserrecyceln wird Standard sein, um in der Produktion nachhaltig zu sein und der Klimawandel wird dazu beitragen, dass mehrere Ernten pro Jahr eingefahren werden können, damit die Flächeneffizienz dadurch weiter gesteigert wird.

Viele spannende Entwicklungen sind sicher noch in der Sensortechnologie und der Robotik zu erwarten. Alle Datenströme im Betrieb werden miteinander vernetzt. Wenn z.B. bei der Herde durch die standardisierte automatische Blutuntersuchung ein Mangel an Spurenelementen festgestellt wird, wird der Futterroboter in der nächsten Rationsmischung darauf reagieren und die Futtermischung daraufhin optimieren. 

Alle hier dargestellten Ansätze werden dazu führen, dass sich das Berufsbild des Landwirts weiter ändern wird. Es wird immer weniger aktive, körperliche Arbeit in Feld und Stall geben, dafür aber immer mehr Kontrollfunktionen und Programmieren der Technik. Im Ackerbau gibt es bereits autonom fahrende Geräte, Stichwort Precision Farming. Auch im Futterbau ist das nur noch eine Frage der Zeit.

Spannungsfeld Produktion und Gesellschaft

Heute steht die Landwirtschaft in Deutschland im Spannungsfeld zwischen Greening, erneuerbaren Energien, Extensivierung, Tierwohl und Nachhaltigkeit und wird von der urbanen Gesellschaft dafür kritisiert, dass in der Landwirtschaft und in der Milchviehhaltung eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte stattgefunden hat.

Es gibt keinen Industriezweig, in dem die Produktivität so sehr gesteigert wurde, wie die Milchviehhaltung. Es gibt keinen Industriezweig, der so sehr von menschlicher Arbeitskraft auf Technik umstellen musste und umgestellt hat und es gibt kaum einen Industriezweig, der so viele grundsätzliche Innovationen erfahren und diese im täglichen Gebrauch adaptiert hat. Die Erfolgsgeschichte der Landwirtschaft währt schon so lange, wie es die Menschheit gibt, Landwirte ernähren immer mehr Menschen und verbrauchen dabei immer weniger Ressourcen.

Die gleiche urbane Gesellschaft, die heute rückwärtsgewandt die Landwirtschaft der 1950-er Jahre fordert und wieder sehen will, wird den Landwirten spätestens 2040 vorwerfen, nicht in der Lage zu sein, die Weltbevölkerung zu ernähren. Die Erfolgsgeschichte in der Milchwirtschaft muss auch zukünftig weiter gehen, um mit weniger Fläche, weniger Ressourcen und weniger Umweltbelastung die Produktion weiter zu steigern. Und das Ganze wird nur funktionieren, wenn Landwirtschaft auch zukünftig noch ein Geschäftsmodell ist, in dem der Landwirt nur mit einem (hohen) Gewinn überleben kann. Überleben heißt sowohl physisch (genug Einkommen), als auch psychisch (Arbeitszeit und Lebensqualität), denn ohne die stabile wirtschaftliche Basis wird der Milchproduzent in Deutschland eine aussterbende Art. Wenn es dazu kommt, wird die Industrieproduktion die synthetische Nährstoffproduktion übernehmen. Fleisch aus dem Labor ist schon heute keine Utopie mehr.

DER DIREKTE DRAHT

S. Möcklinghoff-Wicke
Innovationsteam Milch Hessen der 
Landesvereinigung Milch Hessen
Lochmuehlenweg 3
61381 Friedrichsdorf 

Tel.: +49 (0) 6172 7106 294 
E-Mail: i-team-milch(at)agrinet.de 

Stand: August 2018
Fotos (Katrin Mahlkow-Nerge)